Am Dienstagabend, 22. Mai, stellte sich Jan Stöß Mitgliedern des SPD-Ortsvereins Friedenau vor. Der 38-jährige promovierte Verwaltungsrichter ist Kreisvorsitzender der SPD in Friedrichshain-Kreuzberg und Kandidat für den Landesvorsitz der Berliner SPD. Er tritt gegen den amtierenden Landesvorsitzenden Michael Müller an, der ebenfalls seine Kandidatur erklärt hatte. Der Landesparteitag der Berliner SPD entscheidet am 9. Juni 2012 über die Führung der Berliner SPD.
"Mehr Glaubwürdigkeit"
In einem knapp halbstündigen Statement erläuterte Jan Stöß an aktuellen Beispielen der Berliner Politik, warum sich die Berliner Sozialdemokratie wieder mehr auf ihren Markenkern "Soziale Gerechtigkeit" konzentrieren solle. Immer weniger Menschen in dieser Stadt verknüpften diese Grundhaltung mit der SPD, sie würden entweder gar nicht oder andere Parteien wählen. Schnell kam Jan Stöß am Beispiel des Mindestlohns auf Glaubwürdigkeit zu sprechen. Hier trete die SPD für einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ein. Aber "Wir sind unglaubwürdig, wenn ein Gepäckarbeiter auf dem Flughafen, der im Eigentum von Bund, Berlin und Brandenburg steht, mit 6,20 Euro abgespeist wird." SPD-Regierungen dürften nicht mit solchen Dienstleistern Verträge abschließen. Der von der SPD geforderte Mindeststundenlohn, sagte Jan Stöß, müsse auch für Langzeitarbeitslose in öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen gelten.
Als einen Einstieg in die endgültige Privatisierung des öffentlichen Nahverkehrs kritisierte er den Kurs des SPD-geführten Senats, das S-Bahn-Netz teilweise auszuschreiben. Diesen Weg als "alternativlos" zu beschreiben, sei erstens reine Ideologie und zweitens wenig erfolgversprechend. Das zeige das Beispiel der Eisenbahnprivatisierung in Großbritannien, die sich als Desaster entpuppt hat. Am Beispiel "Zukunft des Berliner Nahverkehrs" erläuterte Jan Stöß auch, warum es für ihn wichtig ist, dass Amt (z.B. Senator für Stadtentwicklung) und Mandat (SPD-Vorsitz) getrennt bleiben sollen: "Jemand muss für die Partei sprechen. Wenn er nicht unabhängig ist, kommen wir als SPD in Schwierigkeiten".
"Gibt es ein Recht darauf, auch in der Innenstadt zu wohnen?"
Diese Unabhängigkeit werde auch gebraucht, wenn es um das wichtige Thema Mieten und Mieterhöhung in Berlin gehe, dessen Brisanz sich zunehmend bei vielen Singles und Familien in der Stadt abzeichnet. "Gibt es ein Recht darauf, auch in der Innenstadt zu wohnen?", fragte Jan Stöß und gab sich die Antwort selbst: "Ich sage: Ja". Er plädierte dafür, bei der Miete staatliche Kappungsgrenzen festzulegen und für eine überzeugende und unabhängige Stimme der Berliner SPD, die dem Konflikt mit der privaten Wohnungswirtschaft nicht ausweicht.
Direkte Demokratie kein Allheilmittel
Von den Mitglieder der Friedenauer SPD wurde der Kandidat gefragt, warum er dagegen sei, mit diesen ehrenwerten Positionen vor alle Mitglieder der Landespartei zu treten und eine Mitgliederbefragen durchzuführen, ob ihnen Michael Müller oder Jan Stöß lieber sei. Stöß stellte sich als Freund des klassischen repräsentativen Delegiertenprinzips dar. Zudem störe ihn an der Debatte "Direktwahl – ja oder nein", dass damit inhaltliche Auseinandersetzungen umgangen würden: "Ich möchte gerne wieder über Politik reden," sagte der Kandidat und begab sich sodann auf einen für manchen Zuhörer etwas rätselhaften Kurzausflug in die französische Geschichte: "Ich bin ein Fan innerparteilicher Demokratie, aber kein Fan des Bonapartismus".
"Hauptstadtpartei muss vernehmlicher in der Bundespartei zu hören sein"
Eine Spielart des autoritären Bonapartismus wähnt er wohl auch im Kurt-Schumacher-Haus, der Parteizentrale der Berliner SPD. Hier gebe es Defizite, was das Arbeitsverhältnis zwischen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern angeht; die Parteizentrale sei teilweise "eine nachgeordnete Stelle des Regierungsbetriebs geworden". Vor diesem Hintergrund verteidigte Stöß auch seine Vorstellung einer neue Vorstandschaft an der Spitze der Berliner SPD, die dann gegen eine Riege von "vier, fünf Männern antreten werde, die ihre Posten seit 15 Jahren unter sich verteilen". Die Hauptstadtpartei SPD müsse in der Stadt hörbarer sein, aber auch vernehmlicher in der Bundespartei wahrgenommen werden.
Stöß kritisierte, dass sich führende Berliner Sozialdemokraten zu selten zu solchen Megathemen wie "Fiskalpakt" oder "Rente mit 67" äußerten. Selbst zu den längst überfällige Reformen in der Sozialgesetzgebung sei in der deutschen Hartz-IV-Hauptstadt wenig zu hören. Die einfache Frage "Wie kann es sein, dass ein Beschäftigter, der 40 Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit sein Vermögen aufbrauchen muss oder sofort in Hartv-IV landet?" - selbst diese einfache Frage sei nicht von der SPD sondern schließlich von der CDU aufgegriffen worden. Der Berliner SPD schalle es stattdessen von sozial schwachen Nichtwählern und Enttäuschten entgegen: "Ihr Sozis habt uns verraten!"
Willy-Brandt-Flughafen BER oder der Mut, Fehler einzuräumen
Wie diese so verständliche wie letztlich grundfalsche Reaktion der Bürger gewendet werden kann, darüber debattierten die versammelten Friedenauer Sozialdemokraten mit Jan Stöß im weiteren Verlauf der Veranstaltung. Dabei wurden zahlreiche Themen, Thesen und Argumente getreift – es ging um die Gesundheitsstadt Berlin, um islamischen Religionsunterricht, um deutsch-französische Bündnisse, um innerparteiliche Demokratie. Schließlich auch um das Aufregerthema dieser Tage, die Verschiebung der Flughafeneröffnung. Jan Stöß' Rat: "Es sind schwere Fehler gemacht worden. Das sollten wir in der Öffentlichkeit einräumen." (usd)